Wusstest du, dass es vielen Traumatisierten unmöglich ist, zu erkennen, dass die Welt, in der sie leben, nicht schön ist? Dass es ihnen schwerfällt oder gradezu unmöglich für sie ist, zu akzeptieren, dass Umstände unerträglich sind?
Dass sie bleiben, selbst wenn sie es schon längst nicht mehr ertragen können? Sie gehen weiter und sehen es einfach nicht, was an ihnen zieht und zerrt. Im Gegenteil, sie würden nahezu alles dafür tun um in diesen schädlichen Umständen zu bleiben.
Sie sind gewohnt, das zu bestärken, was schön ist. Was harmonisch ist. Was läuft. Dem viel zu viel Gewicht einzuräumen. Denn das ist ihre einzige Chance, weiterzumachen. Das Negieren. So haben sie es seit ihrer Kindheit gelernt. Und so sind Traumatisierte viel mehr bereit, Dinge hinzunehmen, die schädlich für sie sind. So bleiben grade Traumatisierte als Erwachsene viel zu lange in Beziehungen anstatt zu gehen.
Sie bleiben. Und ein altes Schema rollt sich in ihnen ab. Sie bleiben, weil sie das Bleiben und Ertragen gelernt haben. Weil sie einst auch bleiben mussten – als Kind, als sie keine Wahl hatten, zu gehen, sich mitzuteilen oder in schützende Arme zu flüchten. Sie mussten Schutz finden – und zwar ganz allein in sich. Da sie den nicht fanden, weil sie sich in einer gänzlich unsicheren Situation befanden, haben sie sich die Situation schön gedacht. Sie sind Meister im Dissoziieren geworden. Meister im Wegbeamen. Meister darin, das Schöne im Grausamen zu sehen. Meister darin, zu akzeptieren, was sie nicht ändern können und Meister darin, in Situationen zu bleiben, aus denen sie längst hätten gehen müssen.
Wenn nicht sein kann, was nicht sein darf, ändert man eben seine eigene Wahrnehmung. Dann geht es schon.
Und so kommt es, dass viele Erwachsene, deren Kindheit die Hölle war, fest überzeugt sind, eine schöne Kindheit gehabt zu haben. Weil sie Widerstandkräfte entwickelt haben, Resilienzen, oftmals gekoppelt an eine Bezugsperson, die ihnen half, das alles zu ertragen. So kommt es, dass viele Traumatisierte zu lange in Beziehungen bleiben, die längst keine mehr sind. Die das Herz nicht nähren. Sie sehen es schlichtweg nicht. Weil sie Schlechtes ausblenden und dann einfach vergessen.
Ach ja, das Vergessen. Wusstest du, dass frühkindlich Traumatisierte anfällig für ein fragmentarisches Gedächtnis sind? Dass sie vergessen, was ihnen nicht gutgetan hat und alles rosarot färben, anstatt sich dem kritisch zu stellen? Für sie ist Kritik und Infragestellen zugleich das Verlieren des Zuhauses. Der inneren Sicherheit. Für sie ist Infragestellen Gefahr. Und so bleiben sie. In dem, was an ihnen nagt. Was ihnen nicht guttut. Was sie auffrisst und krank macht, anstatt sie zu nähren. Doch es ist das Bleiben, was sie aufgeben lässt – sich selbst aufgeben lässt.
Sie entwickelten Stärke und Überlebenswillen. Sind beliebt bei Kollegen und Freunden, weil sie immer so positiv gestimmt sind, so gute Laune haben und scheinbar für jedes Problem eine Lösung. Weil sie in Lösungen denken. Wer in Lösungen denkt, kann Probleme nicht erkennen und oftmals auch nicht annehmen.
Was ist eigentlich, wenn du dir selbst nicht eingestehen kannst, dass es nicht schön ist? Dass die Situation, dein Alltag, dein Leben eben nicht so ist, wie du es dir für dich wünscht?
Wusstest du, dass viele Traumatisierte ein Feld brauchen, in dem sie sich austoben können, um eben dieses Nicht-Schön zu sehen? In anderen, die einem nicht nahestehen, in Politik, in Andersdenkenden? Weil sie diesen Zorn in sich tragen, ohne es zu merken. Diesen Frust. Irgendwo muss er ja hin.
Kindheitswunden sitzen tief und schicken immer wieder Trigger. Das einzige, was wir ändern können, ist das Bewusstsein und unser Umgang damit. Und mit uns.
Nur wer genau hinsieht, erkennt einen Schatten, so klein, dass ihn der Traumatisierte selbst gar nicht wahrnimmt. Nähme er es, bräche für ihn eine Welt zusammen. Seine Welt nämlich. Seine ganze Welt, die er sich so mühsam aufgebaut hat. Die er behalten möchte, weil sie ihm Sicherheit gibt.
Es ist eine vorgegaukelte Sicherheit, die keine ist. So wie die Sicherheit in der Kindheit keine war. Es ist eine Lüge, die Traumatisierte aber so internalisiert haben, dass sie sie nicht erkennen. Viele unsere Eltern sind erzogen von Menschen, die Grausamkeiten im Krieg gesehen haben, viele unserer Eltern haben sich in Alkohol oder Arbeitssucht geflüchtet, viele Eltern haben Gefühle abgeschnitten, weil sie es nicht anders ertragen haben. Und solche Menschen haben uns erzogen. Ihr Trauma weitergegeben anstatt geheilt. Sich weggebeamt, wie du es jetzt auch tust. Es war doch alles gut?!
Doch irgendwann kommt der Tag, an dem dir das Leben alles infrage stellt. An dem das Leben ruft und Strukturen nicht mehr haltbar sind. An dem das Leben dir sagt: Guck hin und erkenne endlich. Erkenne deine Lügen. Erkenne, dass du abbiegen musst. Erkenne, wie sehr du dich selbst fesselst. Erkenne, dass du ausbrechen möchtest. Erkenne, wo du dir die Freiheit nimmst. Erkenne, dass du dir alles schön lügst, anstatt in Ausgewogenheit zu erfassen, dass du nicht glücklich bist. Dass du dich in deiner Beziehung einsam fühlst. Dass Du davor wegläufst, hinzugucken. Dass du dir alles schön redest, anstatt dich dem Häßlichen zu stellen. Es ist deine große Chance zur Befreiung. Eine Handreichung zur Heilung von Traumata, die oftmals generationenlang wie ein Fluch über Familien liegen.
Manchmal braucht man Jahre oder Jahrzehnte, um sich dieses Kreislaufes bewusst zu werden. Und man braucht viel, verdammt viel Mut. Mut, um hinzusehen. Um sich einzugestehen: Es ist nicht schön. Denn dem Eingestehen folgt ein weiteres und ein weiteres und schließlich folgt das Entdecken, dass in der eigenen Kindheit eben nicht alles schön war, sondern die Hölle. Dass die Welt, die man sich aufgebaut hat, schöngelogen war. Nicht vor den anderen gelogen. Vor sich selbst – und das ist das Schlimmste.
Dass man selbst derjenige ist, der sich wegbeamt, wenn es schlecht wird. Der verdrängt. Und der nicht bereit ist, den eigenen Kummer und die eigenen Wünsche und Sorgen anzunehmen, sondern immer um Lösungen bemüht ist, damit es weitergeht. Bloß weitergeht. Am besten noch die eigenen Wünsche zurückstellt, damit es für die anderen weitergeht.
Was wäre, wenn du dir eingestehst, dass du nicht dein Leben lebst, sondern es immer allen recht machen möchtest? Dich selbst zurück stellst. Und mit dem Spatz in der Hand zufrieden bist, anstatt nach der Taube auf dem Dach oder gar den Sternen zu greifen.
Verstehst du, dass sich der tiefe Glaube, dass du all das Schöne nicht wert bist, genau in diesem Verhalten begründet? Er hat sich tief in dich hineingefressen. Höchste Zeit aufzuwachen. Es ist Zeit, dich zu trauen, hinzuschauen, selbst wenn deine Welt zusammenbricht. Lass sie zusammenbrechen. Was auf Lüge errichtet ist, sollte gehen dürfen und Platz für Neues schaffen. Platz für deine Träume und das, was du dir wirklich wünscht. Platz für das, was du leben möchtest.
Verstehst du, dass du nicht immer durchhalten musst? Dass du nicht drinbleiben musst, sondern auch aussteigen darfst? Das Nein zu den alten Strukturen ist nicht nur ein Bejahen der Wahrhaftigkeit und Authentizität.
Es ist ein Ankommen im Jetzt, anstatt sich immer in Traumwelten zu beamen. Anstatt sich zu betäuben mit was auch immer, schlimmstenfalls mit falscher Sicherheit. Es ist ein Ankommen bei dir und ermöglicht dir die ehrliche Bestandsaufnahme: Was brauchst du in deinem Leben? Was macht dich glücklich? Was liebst du?
Es ist ein Ja zu dir.
Aber in einer Welt, in der das Sterben in Hospize gestopft wird, Krankheiten als etwas, gegen das man kämpfen muss und Altern dem Jugend- und Fitnesswahn weicht, ist es verdammt schwer, anzunehmen, dass es eben nicht schön ist. Weil garantiert wieder einer mit einem Lösungsvorschlag um die Ecke kommt oder einem rät, drinzubleiben, nicht aufzugeben. Der einem sagt: Du bist so stark, du schaffst das schon. Genau das ist aber das Gift, an dem Traumatisierte dann irgendwann zugrunde gehen. Denn sie müssen zuallerst lernen, schwach zu sein.